



Mit hasserfülltem Blick
Hans Steiger
Vor einem Jahr suchte ich im aufbewahrten Altpapier meine erste Kolumne und fand eine überraschend aktuelle Impression. Zwar war im Abstimmungskampf um die SVP- Initiative „gegen Masseneinwanderung“ nicht die „Überfremdung von Volk und Heimat“ das Thema, zumindest nicht offiziell, und im Visier waren nicht die Italiener, doch das Klima kam dem verdammt nahe, was ich 1964 beschrieben hatte.
Hass? War das übertrieben? Ich sah mir „Siamo italiani“, die zeitgenössische Dokumentation von Alexander J. Seiler auf DVD noch einmal an. Fast am schlimmsten war die „Volkesstimme“ aus Basel. „Herdenvieh“, „strohdumm“, notierte ich als O-Ton aus dem Film. Ja, so klang das. Auch in Zürich. Oder in Horgen, wo ich aufgewachsen bin. Standen am Bahnhof ein paar Italiener zusammen, wurde ihr Reden als He-rumlärmen beklagt, die jungen Männer waren eine Bedrohung für heranwachsende Töchter. Im besten Fall hiess es, die seien halt „anders“, ihre Art zu leben passe einfach nicht hierher.
Leider nicht nur Karikaturen
Kurz vor der Ecopop-Abstimmung erschien dann „Baracken, Fremdenhass und versteckte Kinder“ und das Cover dieser Work-Dokumentation bestärkte den Wunsch, meine erste Kolumne mit der letzten nochmals zu drucken. Denn da war es wieder - dieses Bild von den Menschen, den Koffern, den Zügen. Ich hatte es in vielen Varianten gesehen, nicht nur als Pendler im Hauptbahnhof; es muss mich berührt haben. Zwar ist mir heute mein jugendliches Pathos ein bisschen peinlich und die Kombination mit den Weihnachtspaketen wahrscheinlich konstruiert. Saisonniers reisten meist früher aus, wie ich nun in Schilderungen von Betroffenen las. Vielleicht hatte ich auch die zwei Figuren auf meinem Bahnsteig frei erfunden. Sie klingen, sehen aus wie Karikaturen.
Aber den Kern fand ich im Interview bestätigt, das Marie-Josée Kuhn mit Peter Bichsel geführt und in die Dokumentation aufgenommen hat. Er habe die Zeit, „da es nur eine Sorte Ausländer gab“, erlebt. „Die sind damals noch mehr beschimpft worden als heute die Jugoslawen.“ Linke luden in Solothurn einmal Italiener zu einem gemeinsamen Fest ein. „Die Leute in der Stadt fanden das grauenhaft.“ Mit diesen „Sautschingge“, das fehlt noch! Später kamen andere Nationalitäten hinzu. Bichsel schildert eine Szene, wo ein Tamile im Bus einer zugestiegenen Dame - „gebläutes, gepflegtes Haar“, gehbehindert - seinen Sitzplatz anbot. „Sie schaut ihn mit hasserfülltem Blick an: Was fällt diesem Kerl ein, jetzt werden diese Ausländer noch freundlich! Gesagt hat sie es nicht. Aber sie hat es signalisiert. Sie hätte den erwürgen können für seine Freundlichkeit.“ Die Angst vor dem Fremden sitze tief in uns allen, kom-me immer wieder zum Vorschein, „In unseren Herzen wohnt eine kleiner Faschist. Den müssen wir mit unseren Köpfen bekämpfen.“ Stattdessen nütze heute die SVP diese Gefühle „kalt und zynisch“ aus. Typisch dafür war der Slogan: „Schweizer wählen SVP“. Gegen so geschürte Emotionen mit Argumenten anzukämpfen, sei „in apolitischen Zeiten“ schwer, gelinge einer SP kaum. Sie thematisiere die mit der Fremdenangst verknüpfte soziale Frage zu wenig. „Heute sind die übriggebliebenen Linken alle froh, dass es wenigstens noch die Gewerkschaften gibt“, so Bichsel.
Gewerkschaften mussten lernen
Doch die von der Unia verlegte Publikation leuchtet auch die eigene Vergangenheit aus. Paul Rechsteiner erinnert daran, dass die Gewerkschaften in Abstimmungskämpfen um die Schwarzenbach- sowie weitere Initiativen der 1960er- und -70er-Jahre „eigentlichen Zerreissproben ausgesetzt“ waren. In gewerkschaftlichen Reden und Resolutionen wurde nicht nur „Priorität für die einheimischen Arbeitskräfte“ gefordert; wiederholt tauchte dort auch die „Abwehr der Überfremdung“ als Ziel auf. Mit der „Mitenand-Initiative“ wurde zwar 1974 eine offenere Migrationspolitik postuliert, doch sie scheiterte kläglich. Solidarität blieb lange eine leere Parole. Das „fremdenpolizeigesteuerte System“ war in vielen Branchen mit krasser Niedriglohnpolitik verknüpft. „Die nationalistische Politik der Kontingentierung war für die Gewerkschaften eine Falle, die sie jahrzehntelang gelähmt hat.“
Wie dieses System für betroffene Ausländerinnen und Ausländer aussah, zeigen mehrere Erfahrungsberichte. Entwürdigungen, Disziplinierung, bürokratische Hürden, Schikanen. Bruno Cannellotto, der 1957 als 18-Jähriger erstmals in die Schweiz kam und heute in Zürich-Wiedikon im Ruhestand lebt, beschreibt die Lebensbedingungen der sogenannten Gastarbeiter im Rückblick ohne böse Worte. Umso bitterer klingt die Anerkennung der für die Unternehmen gut ausgeklügelten Regie: „130'000 Italienerinnen und Italiener mussten in wenigen Tagen einreisen. Das war alles perfekt von A bis Z durchorganisiert.“ Bei den Bauprojekten war alles auf Saisonniers ausgerichtet. „In allen Baufirmen standen Massen von Schaufeln, Hämmern und Kellen bereit. Nur für die Menschen, die kamen, war nichts vorgesehen.“ Ausser jenen Baracken am Stadtrand eben. „Es war nicht erwünscht, dass wir ein Teil der Gesellschaft wurden.“
Max Frisch hat 1965 im Zusammenhang mit dem Film von Seiler das bekannte Wort vom „Herrenvolk“ geprägt, welches sich jetzt in Gefahr sehe - „man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen“. Ich selbst kannte keinen von ihnen persönlich. Dank einer Begegnung mit Mario Comensoli und seinen mehr zarten als harten Bildern, fühlte ich mich mit ihnen verbunden. Aber die „Arbeiter in Blau“ blieben Kunst; am 1. Mai sind ihre Gruppen lange ein getrenntes Element der roten Kundgebungen geblieben. Eigentlich habe ich über sie nichts gewusst, bevor ich „Siamo italiani“ im Kino sah, und danach vergingen noch Jahre, bis es in Parteien und vor allem Gewerkschaften zu engeren Kontakten und echter Zusammenarbeit kam. Mit einer Ausstellung, die derzeit - in einer nachgebauten Baracke untergebracht - durch unser Land wandert, wird an damalige Zustände erinnert, und die Unterzeile der Begleitdokumentation hält fest, dass es „in der Schweiz kein neues Saisonnierstatut geben“ darf. Nach dem 9. Februar 2014 ist das keine Selbstverständlichkeit mehr.
Dies nicht noch einmal
Ein spezielles Kapitel der gern verdrängten jüngsten Geschichte war das der versteckten Kinder. In engen Räumen untergebracht, illegal, isoliert. Auch in der Work-Dokumentation ist von ihnen die Rede. „Verbotene Kinder“, ein von Marina Frigero erarbeitetes Buch, in dem Betroffene erzählen, bringt dazu mehr ans Licht. Spät. Für viele scheine jetzt erst „der Zeitpunkt der Erinnerung gekommen zu sein“. Jetzt, wo die längst überwunden geglaubte Sklavenhalterwirtschaft mit Saisonniers erneut im Gespräch ist. Bei der Buch-Vernissage in der Berner Casa d'Italia stellte GP-Nationalrat Ueli Leuenberger fest, die politische Rechte habe nun nach einem halben Jahrhundert tatsächlich geschafft, was sie in den Sechzigerjahren mit der Schwarzenbach-Initiative nicht erreichte. Mit dem Plebiszit gegen die sogenannte Masseneinwanderung wurde nämlich das Prinzip der Kontingentierung demokratisch abgesegnet. Beginnt dank der SVP all dies noch einmal von vorn?
* Baracken, Fremdenhass und versteckte Kinder. Herausgegeben von Work und Unia, Bern 2014, 48 Seiten. Auch in französischer Sprache erhältlich. Kostenlos via migration@unia.ch oder Unia, Weltpoststrasse 20, 3000 Bern 15.
*Marina Frigerio: Verbotene Kinder. Die Kinder der italienischen Saisonniers erzählen von Trennung und Illegalität. Vorwort von Franz Hohler. Rotpunkt, Zürich 2014, 184 Seiten, 29 Franken.
(Quelle: PS, die linke Zürcher Zeitung, 18. Dezember 2014, wo nach fünfzig Jahren die letzte von gut 1000 Kolumnen des Autors erschien)
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Herausgegriffen (vor einem halben Jahrhundert):
Menschen warten auf Züge
oder Warten auf menschliche Züge
Es ist kein Vergnügen, gegen Ende Dezember im Zürcher Hauptbahnhof auf die Einfahrt eines Zuges zu warten. Schon nach wenigen Minuten sind die letzten Reste der aufgespeicherten Zimmerwärme und damit auch der guten Laune erbarmungslos vom Winde verweht. Und mit Beharrlichkeit beginnt die Kälte an Zehen- und Fingerspitzen zu knabbern. Neben mir scheint ein älteres Ehepaar mit ähnlichen Problemen beschäftigt zu sein; er scharrt nervenzermürbend mit den Füssen, sie lässt unermüdlich ein zerknülltes Taschentuch zwischen der ausgebeulten, pelzverbrämten Manteltasche und dem zündroten Zentrum ihres griesgrämigen Gesichts pendeln und schweigt.
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Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig ist es aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso kalt. Diese Feststellung mag reichlich banal klingen, ist aber nichtsdestoweniger überraschend. Denn auch dort warten Menschen auf einen Zug, aber während man in einer Umgebung stumm vor sich hinbrütet, herrscht drüben rege Betriebsamkeit. Prall verschnürte Kartons werden aneinandergereiht. Man sitzt auf zerkratzten Koffern und debattiert und diskutiert mit Worten und Gesten. Ein Mann reicht seinem Kollegen eine dampfende Thermosflasche. Und ein Knäuel aus Haaren, Mantelstoff und Beinen entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als junges Paar, das realisiert hat, wie menschliche Wärme dem Dezemberklima am ehesten standhält.
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Zwischen den Geleisen erhebt sich kein Gitter. Das ändert aber nichts daran, dass ich mich irgendwie in einen Tierpark versetzt fühle, mitten in eine fröstelnde Menge, die unverwandten Blickes durch die Maschen eines Käfigs starrt, befremdet und verständnislos. – Da kommt Leben in den Herrn neben mir, nicht viel, aber immerhin stösst er seine Frau mit dem Ellenbogen an und weist mit einer kurzen Kopfbewegung auf die Italienergruppen hin: „Hoffentlich bliibt das verdammti Saupack dune.“ Seine Angetraute nickt zustimmend. Bis zur Einfahrt des Zuges herrscht erneut Schweigen. Nur noch einmal werden die Wartenden in ihren Betrachtungen gestört, als eine Reihe von Postwagen ratternd und knirschend vorbeirollt, meterhoch beladen mit langen, grünen, kleinen und zerbrechlichen Paketen. Und jedes dieser bunt durcheinandergeschachtelten Päckchen ist ein Zeugnis der Nächstenliebe und Gebefreudigkeit unseres Volkes, das immer beizeiten ans Freudebereiten denkt, ein Zeichen unserer vorbildlichen Herzlichkeit. Doch: „Bitte erst am Weihnachtstag öffnen!“
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Natürlich muss man nicht unbedingt auf einen Bahnhof gehen, um zu erleben, wie längst erwachsene Schweizer in die Flegeljahre zurückfallen. Unser augenblicklich hervorstechendstes Nationallaster, der Fremdenhass, findet ja gegenwärtig allenthalben seinen Niederschlag. In Leserbriefspalten und öffentlichen Versammlungen, im Tram und im Lebensmittelgeschäft, am Arbeitsplatz und am Stammtisch macht sich eine Geisteshaltung breit, die man vor einiger Zeit als faschistisches Herrenrassen-Denken kennengelernt hat. Sicher, noch sind es wenige, die glauben, das Italienerproblem mit plumpem Italienerhass angehen zu müssen; es sind aber doch bereits genug, um uns als ernstzunehmende Warnung zu dienen.
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Da hat doch kürzlich der Earl of Arran unsere altehrwürdige Helvetia recht massiv mit Tinte bespritzt. Was das mit den Italienern zu tun hat? In der Basler National-Zeitung vom 13. Dezember stand’s: „Wagt es doch der englische Lord, uns schlichtweg eine ‚zweitrangige Nation’ zu nennen! Uns ‚geizig, snobistisch und übelriechend’ zu schim-pfen – nehme doch der Schweizer ‚kaum je ein Bad’! Und dann sollen wir obendrein noch die ‚hässlichste Rasse in Europa’ sein, von der man sich nur mit Schaudern vorstellen könne wie sie sich vermehre! – Da haben wir einfach erklärt: Der spinnt! Den nimmt niemand ernst. Der ist nur muff darüber, dass das englische Pfund mit Hilfe von 690 Millionen Schweizer Franken über die Hürden gebracht werden muss. Phä ... Wie tut’s, wenn man so angepflaumt wird? Als eine Nation von Messerstechern, beispielsweise, von Spaghettifressern, Vogelmördern? – Aber das hat er doch nicht gesagt, der Earl of Arran. – Nein. Er nicht.
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Nun, zu Beginn des nächsten Jahres werden im Zürcher Hauptbahnhof Sonderzüge eintreffen. Die zerkratzten Koffer werden wieder auf dem Bahnsteig stehen, etwas leichter als vor Wochen. Kalt wird es immer noch sein, wenigstens, was die Witterung anbelangt. Aber vielleicht gelingt es bis dahin, ein anderes Klima zu verbessern. Man sollte aber bald damit beginnen, allzuviel Zeit bleibt nicht. Den unerbittlichen Predigern des Hasses und der Vorurteile kann man ja in den nächsten Tagen das Podium unter den Füssen wegziehen. Und vor allem sollten wir nüchterner überlegen, wo wir die Verantwortlichen für unsere gegenwärtige Lage zu suchen haben, nicht unten in den Werkhallen und Baugruben bei den italienisch sprechenden Kollegen, sondern eher weiter oben, in den hell beleuchteten und gut ausgestatteten Chefbüros ... Und falls Sie zufälligerweise den älteren Herrn, von dem vorhin die Rede war, irgendwo treffen sollten, was gut möglich wäre, denn er ist viel unterwegs, richten Sie ihm die besten Wünsche für das neue Jahr aus.
(Text von Hans Steiger, erschienen im Zürcher ‚Volksrecht’ am 16. Dezember 1964)