



Nichtbezugsquote von Sozialhilfe – eine Grauzone
Hälfte / Moitié
Schätzungen ergeben, dass in der Schweiz mehr als die Hälfte von Armutsbetroffenen keine Sozialhilfe beziehen, obschon sie dazu ein Anrecht hätten. Der bernische Grossrat Adrian Wüthrich (SP) stellte dem Regierungsrat die Frage, ob dieser die Sozialhilfe-Nichtbezugsquote im Kanton Bern kenne.
Wüthrich begründete seinen Vorstoss so:
Im Dezember 2012 hat der Regierungsrat den Bericht über die Kontrolle der Kosten in der individuellen Sozialhilfe in den Jahren 2009, 2010 und 2011 an die Grossratsmitglieder verschickt und den Sozialbericht 2012 veröffentlicht. Mit der Sozialberichterstattung des Kantons Bern sollen ein ganzheitliches Bild der Themen Armut, Existenzsicherung und Sozialhilfe im Kanton Bern vermittelt und ein Beitrag für eine sachliche Diskussion dieser Themen geliefert werden. Die gelieferten Zahlen und Analysen sind eindrücklich und zeigen, dass immer mehr Menschen Sozialhilfe benötigen.
Über eine Zahl hat der Regierungsrat in diesem Zusammenhang allerdings nicht informiert: die Nichtbezugsquote. Dies ist der Anteil an Sozialhilfe-Bezugsberechtigten, die sich trotz ihrer prekären Lebenslage gar nicht erst vor den Schaltern der Sozialämter einfinden. Diese Quote liege in der Schweiz mittlerweile bei 60 Prozent, wie man aus Zahlen des Bundesamts für Statistik schliessen kann. Fragen: 1. Wie hoch ist die Nichtbezugsquote im Kanton Bern? 2. Welche Gründe sind es aus Sicht des Regierungsrates, die die Menschen abhalten, Sozialhilfe zu beantragen? 3. Wird der Regierungsrat im nächsten Sozialbericht darüber eingehend berichten?
Eine Grauzone, aber eine wichtige Frage
Am 29. Januar 2013 antwortete Regierungsrat Philippe Perrenoud, Gesundheits- und Fürsorgedirektor auf die Frage von Grossrat Adrian Wüthrich gemäss Ratsprotokoll wie folgt:
Le taux de non recours n’est pas déterminé et on parle à juste titre de zone grise dans ce contexte. Une comparaison directe entre le taux de pauvreté et le taux d’aide sociale est impossible pour des raisons méthodologiques et conceptuelles. Nous ne disposons actuellement que des estimations de la littérature spécialisée, qui ne concordent de loin pas entre elles et sont donc peu concluantes. Renseignements pris auprès de l’Office fédéral de la statistique, celui-ci ne publie aucun chiffre à ce sujet. 2. Les raisons pour lesquelles les personnes qui auraient droit à l’aide sociale et ne le demandent pas sont multiples: des sentiments comme la honte, la fierté ou la peur d’être stigmatisé peuvent jouer un rôle, le manque d’informations ou la complexité de la démarche peuvent aussi être dissuasifs. Certains préfèrent sans doute aussi faire appel d’abord à leur réseau social, lorsque celui-ci le leur permet, ou se débrouiller par leurs propres moyens en recourant à l’autosubsistance alimentaire. 3. Le rapport social se focalise sur la situation économique de l’ensemble de la population et non pas sur l’aide sociale. Il n’est donc en principe pas prévu de traiter le non recours aux prestations. Le Conseil-exécutif est tout à fait disposé à se pencher sur cette question de politique sociale importante, éventuellement dans un autre cadre.
Übersetzung:
Die Nichtbezugsquote ist nicht festgelegt und wir sprechen richtigerweise in diesem Zusammenhang von einer Grauzone. Ein direkter Vergleich zwischen Armutsquote und der Sozialhilfequote ist aus methodischen und konzeptuellen Gründen unmöglich. Wir verfügen gegenwärtig nur über Schätzungen in der Fachliteratur, welche unter sich nicht übereinstimmen und daher wenig zwingend erscheinen. Erkundigungen beim Bundesamt für Statistik haben ergeben, dass dieses keine Zahlen zu diesem Thema publiziert hat. 2. Es gibt verschiedene Gründe, weshalb Personen, welche Anrecht auf Sozialhilfe hätten und diese nicht anfordern: Gefühle wie Scham, der Stolz oder die Angst, stigmatisiert zu werden, können eine Rolle spielen. Auch der Mangel an Informationen oder die Komplexität des Verfahrens dürften ausschlaggebend sein. Einige Betroffene ziehen es, falls möglich, offenbar vor, zuerst auf ihr soziales Netz zurückzugreifen oder sich mit den eigenen Mitteln selbst zurecht zu finden, indem sie Selbstversorger werden. 3. Der Sozialbericht konzentriert sich auf die wirtschaftliche Situation der Gesamtbevölkerung und nicht auf die Sozialhilfe. Es ist daher nicht vorgesehen, den Nichtbezug von Sozialhilfe zu behandeln. Der Regierungsrat ist hingegen bereit, sich eventuell in einem anderen Rahmen dieser wichtigen Frage im Sozialbereich anzunehmen. (Übersetzung PIV.)
Neues Handbuch für Sozialhilfe im Kanton Bern
Mitget. / Die Berner Konferenz für Sozialhilfe, Kindes- und Erwachsenenschutz BKSE erarbeitete im Auftrag und in Zusammenarbeit mit der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern ein Handbuch Sozialhilfe, welches allen Sozialdiensten des Kantons Bern zur Verfügung gestellt wird.
Das Handbuch ist als Online-Version in deutscher und französischer Sprache aufgebaut. Die Stichwörter sind je in zwei Teile gegliedert: Ein erster Teil umfasst allgemein gültige Grundlagen und Richtwerte (Zusammenfassung, rechtliche Grundlagen und materielle Regelung). Dieser Teil ist öffentlich im Internet zugänglich. In einem zweiten Teil können die einzelnen Sozialdienste interne Regelungen (Zuständigkeiten, Abläufe, Adressen, usw.) anfügen.
Nach Abschluss der zweijährigen Projektphase sind nun ca. 100 Stichwörter veröffentlicht. Diese werden laufend nach Bedarf ergänzt und aktualisiert. Das bisherige Handbuch der GEF „Sozialhilfe A-Z“ wird offiziell durch das neue Handbuch der BKSE ersetzt und ausser Kraft gesetzt.
http://handbuch.bernerkonferenz.ch/stichwoerter/
Weniger Schikanen bei der Arbeitssuche
PIV / Das eidgenössische Arbeitslosenversicherungsgesetz schreibt eine obligatorische Stellensuche vor. Seit 1997 hat sich eine schikanöse Praxis mit immer mehr angeforderten Stellenbewerbungen ergeben. Der Kanton Bern möchte nun in seinem Gesetzesvollzug einen Schritt zurück machen.
Der Berner Tageszeitung „Bund“ vom 15.Februar 2013 entnehmen wir, dass das Amt für Wirtschaft (beco) der Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Bern Bürokratie abbauen möchte. Gestrichen werden die obligatorischen Informationsanlässe für Neuangemeldete der Arbeitslosenversicherung. RAV-BesucherInnen berichten laut „Bund“ davon, dass sie seit dem 1. Januar 2013 nur noch halb so viele Stellenbewerbungen am Ende eines jeden Monats beibringen müssen. Beratungsgespräche werden auch in einem zweimonatigen Rhythmus möglich. Das RAV weist auch keine Stellen mehr zu, welche von den Arbeitslosen gar nicht gewünscht werden. Zudem können diese ihr RAV nach freier Wahl aussuchen und müssen sich nicht mehr, wie bisher, bei der Wohngemeinde anmelden. Auf Anfrage teilt das beco dem Mediendienst Hälfte/Moitié mit, dass eine detaillierte Information im Frühsommer 2013 erfolgen wird.
Gedanken zur Arbeit
HK / Unter dem Leittitel „Gedanken zur Arbeit“ steht im Forum Altenberg in Bern vom Dezember 2012 bis Juni 2013 eine Reihe von Seminarien mit zum Thema „Arbeit“ auf dem Programm. Hinweis auf die nächste Veranstaltung:
11. März 2013, 19h00
Dr. theol. Ina Praetorius
Das bedingungslose Grundeinkommen als patriarchales Projekt
Die laufende Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen bietet die Chance, grundlegende Begriffe wie „Wirtschaft“, „Arbeit“ oder „Wohlstand“ neu zu definieren. Das ist dringend notwendig, denn Wirtschaft ist mehr als Markt, und Arbeit ist etwas anderes als Gelderwerb. Wer das BGE als postpatriarchales Projekt versteht, ent-deckt die weltgestaltenden Potenziale, die in der ausdrücklichen Entkoppelung von Leistung und Lohn stecken.
Die Vorträge finden jeweils statt im Forum Altenberg, Altenbergstrasse 40, 3013 Bern, Tel. 031 332 77 60 www.forumaltenberg.ch info@forumaltenberg.ch